In einer genialen Stadt

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03.11.2021 - Tausende von Lesern, mehr noch von Leserinnen zieht es seit Kurzem in die Stadt am Vesuv. Als Magnet erwies sich Elena Ferrantes Tetralogie über die „geniale Freundin“ und deren Verfilmung. 

Mit großen Erwartungen möchten die Besucher die Schauplätze und vor allem die Atmosphäre der Stadt erleben. Sie verfolgen das Schicksal zweier Mädchen aus einem der ärmsten Viertel der Stadt. Das Buch „Meine geniale Freundin“ und die drei Folgebände behandeln die Geschichte der Freundschaft zweier Frauen von der Kindheit bis ins Alter im Wechselspiel von Liebe und Enttäuschung. Und dies vor der Kulisse der leidgeprüften und menschenfeindlichen Stadt Neapels. Eingebettet in eine traumhaft schöne Umgebung schildern Buch und Serie das prekäre Leben in einem Elendsviertel im Zeitraum von der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre.

Meine geniale Freundin - Suhrkamp Verlag

Und niemand kennt die Autorin

 

Trotz des gewaltigen internationalen Erfolges schaffte es die Schriftstellerin hinter dem Pseudonym Elena Ferrante ihre wahre Identität zu verstecken. Dabei werden die Leser ausführlich über ihr künstlerisches Schaffen informiert. Dies aber geschieht in Interviews, die bis auf eine Ausnahme schriftlich geführt wurden. Dass sie aus Neapel stammt eröffnet sich dem Kenner der Stadt bereits nach wenigen Seiten. Kritiker loben die „elegante, schwerelose Sprache“ der Autorin. Weder sie noch die begeisterten Lesen wollen glauben, dass die Autorin im Hauptberuf nicht Schriftstellerin ist.

Ein Grund für ihre konsequente Anonymität war, dass sie – oder er, wie einige Kritiker vermuten, meinte, dass für die Medien und die heutigen Leser weniger das Werk selbst als vielmehr die Reputation des Autors bei der Beurteilung maßgebend ist.

Das triste Stadtviertel

Die beiden Protagonistinnen werden im August 1944 in kinderreiche Familien geboren und wachsen in einem ärmlichen Viertel auf, das nur Il Rione (Stadtviertel) genannt wird. Dank der genauen Beschreibung wurde das Stadtviertel mit dem Rione Luzzatti im Osten von Neapel identifiziert. Hierher verirrte sich vor noch wenigen Jahren kein Tourist. Heute schlendern die Fans von Ferrante durch die immer noch heruntergekommenen Straßen zwischen den vierstöckigen Wohnblocks. Sie erkennen die Kellerfenster, die die beiden Mädchen magisch anzogen und verwirrten. Hier flattert die Wäsche an Leinen, die sich von Balkon zu Balkon spannen.

Eine Freundschaft in Gegensätzen

In diesem unwirtlichen Ambiente beginnt die Freundschaft der beiden Mädchen. Raffaella Cerullo (genannt Lina oder Lila) ist mutig, eigenwillig, renitent und legt wenig Wert auf die Anerkennung der anderen. Dabei hat sie sich schon vor der Einschulung das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Elena Greco (auch Lenuccia oder Lenù genannt) ist dagegen ängstlich und unsicher, fleißig und diszipliniert. Gemeinsam ist beiden Mädchen, dass sie die Besten in ihrer Grundschulklasse sind und von der engagierten Lehrerin Maestra Oliveiro gelobt und gefördert werden. Doch deren Plan, den jungen Damen eine weiterführende Bildung zu ermöglichen, gelingt nur bei Elena. Lilas Eltern weigern sich, Schulgeld zu bezahlen und sehen die Zukunft des Mädchens als Hausfrau und Mutter. Immerhin schafft es Lila, in der Schusterwerkstatt ihres Vaters beschäftigt zu werden. Doch selbst unter diesen Umständen bleibt Lila noch lange Zeit die Überlegene, was Elena neidlos anerkennen muss. Immer wieder entdeckt sie Neues, womit sie ihr Umfeld überrascht, sei es als kreative Designerin von Schuhen oder als passionierte Leserin der regionalen Bibliothek. Einmal erklärt sie ihrer Freundin Elena die lateinische Grammatik, die sie sich, wie üblich, selbst beigebracht hat.

Verstrickt in die Camorra

Die Wege der beiden Mädchen greifen weiter ineinander, noch mehr, als Männer in ihr Leben treten. Damit tritt auch die soziale Problematik Neapels in das Leben der beiden Protagonistinnen. Ausgerechnet der der Sohn des Camorristen Don Achille, für die Mädchen einst die Ausgeburt des Bösen, bietet Lilas Vater an, aus dessen Schusterwerkstatt eine Schuhfirma zu machen. Dort sollen Lilas Entwürfe realisiert werden, gleich kauft er ein Paar Schuhe aus ihrer Kollektion, obwohl sie ihm zu klein sind. Als sie heiraten, ist sie erst 16 Jahre alt.

Was eigentlich der Schluss der Beziehungen ist, das Verschwinden Lilas und die Auslöschung ihrer bürgerlichen Existenz, setzt Elena Ferrante an den Anfang und schafft damit einen gewaltigen Spannungsbogen. Die Saga der beiden Mädchen umfasst vier Romane, wobei die letzte Seite eines Buches stets mit der ersten des folgenden Romans verknüpft wird, was Spannung auf das Schicksal der Heranwachsenden erzeugt.  Das Buch ist flüssig geschrieben und verknüpft die Handlung mit dem schwierigen Wiederaufbau Neapels und Italiens nach dem Krieg, mit der dominanten Rolle der Democrazia Cristiana und den dunklen Jahren des Terrorismus der Brigate Rosse.

Der weltweite Durchbruch durch die Verfilmung

Ferrantes Bücher hatten einen durchschlagenden Erfolg, vor allem in den USA, bald wurden sie in alle wichtigen Sprachen übersetzt. In London wurden sie in ein zweiteiliges Theaterstück mit einer Gesamtspielzeit von viereinhalb Stunden umgesetzt und im März 2017 uraufgeführt. Unter der Regie von Saverio Costanzo entstand eine vielgelobte Verfilmung des Romans als achtteilige Fernsehserie. In Deutschland ist die Serie seit dem 2. Mai bei Magenta TV zu sehen. Dass die Serie so gut gelang, lag auch daran, dass die Autorin die Dreharbeiten kritisch via Email verfolgte.

Wen wundert es angesichts des ungeheuren Erfolgs, dass Tausende Ferrante-Fans nach Neapel kommen und die Schauplätze des Romans sehen möchten. Tatsächlich ist Neapel der einzige Handlungsort des ersten Bandes der Tetralogie, sieht man vom Besuch Elenas auf Ischia ab, wo ihr Maestra Oliveiro einen Sommerurlaub vermittelt, damit sich dort das Mädchen in Ruhe ihren Büchern widmen kann.

Bei der Geschäftstüchtigkeit der Neapolitaner wird es niemand verwundern, wenn nun in der Stadt alle möglichen Programme auf den Spuren der „genialen Freundin“ angeboten werden. Selbst DIE ZEIT hatte eine Literaturreise für ihre Leser aufgelegt, bei der jeweils Ausschnitte aus Ferrantes Büchern vorgelesen wurden.

Die wegen ihrer roten Touristenbusse bekannte und weltweit operierende Firma “City Sightseeing” bringt fährt die begeisterten Leser mit Kleinbussen zu den Orten des Romans. Andere örtliche Reiseleiter bewältigen die Strecken zu Fuß.

Mit Ferrante – aber nicht nur

Ist es nun sinnvoll, die knappe Zeit, die Reisegruppen für Neapel haben, auf den Spuren der vier Erfolgsromane einzusetzen? 
Unsere Antwort ist ja und nein. Es ist nicht empfehlenswert, in das Rione Luzzatti zu fahren. Zwar findet man noch einige Wohnblocks mit den charakteristischen schwarzen Kellerfenstern, in die die Mädchen ihre Puppen verschwinden ließen.
Ansonsten ist aber angesichts des dichten Verkehrs und der Neubauten an der Stelle der Kriegstrümmer nichts mehr von der Atmosphäre der Nachkriegszeit zu spüren. Auch wurde die Serie an einer anderen Stelle vor sorgfältig aufgebauten Kulissen gedreht. Zudem haben es die Bewohner nicht gern, mit einigen Figuren des Romans gleichgesetzt zu werden.

Klaus Weiss